Nachklänge zum Todestage Kaiser Wilhelms l.
Plauderei von Ralph v. Rawitz (Berlin)
in: „Mährisches Tagblatt” vom 15.03.1917
Schöne Leserin! Geneigter Leser! Gestatte, daß ich mich dir ganz gehorsamst vorstelle: Mein Rame ist Rawitz, ich bin wohlbestallter, alter, uralter Hauptmann im Regiment sagen wir „König Ramses der Große” und Ortskommandant eines Nestes, das wir etwa „Granatenberg” taufen können. Das heißt, die Angabe wirklicher Namen ist verboten, damit müssen wir uns nun einmal abfinden. Und nun stellst du dich mir vor. Du bist ein lieber deutscher Landsmann, vielleicht gar ein Bewohner unserer Spreestadt — die, will es das gütige Geschick — dereinst die geistige Hauptstadt der Welt werden soll und auch politisch an erster Stelle — — aber halt! Ich ertappe mich bei der Erörterung von Friedenszielen und die ist streng verboten. Also keine Zukunftsträume! Dafür lieber Bilder aus der Vergangenheit.
Die Vergangenheit, lieber Leser! Du glaubst gewiß nicht, wie oft wir hier draußen uns mit ihr beschäftigen. Das hat gute Gründe. Es wird nicht immer gekämpft, wenigstens an vielen Stellen der Front nicht, und dann fliegen unsere Gedanken nach Hause, zu Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Weib und Kind, und darüber hinaus zu fernen Zeiten, in das Elternhaus, die Heimat, die Kindheit hinein. Und dann erscheint uns alles so hold, übergossen von freundlichem Abendrot versunkener Tage. Wir sehen im Geist die alte Zeit K a i s e r W i l h e l m s I.
„Hallo — tü — tü — tü! Hier 777. Brigade. Wieviele Pioniere arbeiten am Brückenweg?”
„Zwei Kompagnien.”
„Einverstanden. Schluß!”
Verzeihung, lieber Leser, ein Ferngespräch hat uns gestört. Einige Tropfen Gegenwart in den Becher der Vergangenheit. — Fahren wir fort! —
Die Bäume auf dem Hügel vor meinem Fenster, über denen soeben einige Brennzünder platzen, schimmern matt grün: Der Vorfrühling ist da. Das ist die Zeit, da man bei Tage schon gern die erwachende Natur belauscht, abends aber noch oft in die Theater flüchtet. Ich sehe die Straßen vor mir, in denen die Leute fluten, um sich zur rechten Zeit noch den Platz im behaglichen Zuschauerraum zu sichern, ich sehe das Berlin von 1913. Im Opernhause ist heute etwas ganz Besonderes los. Der Kaiser sitzt in der Ecke der Proszeniumsloge, im ersten Rang wechselt die farbige Uniform mit dem schwarzen Frack und im Parkett entdecke ich unter vielen berühmten und bekannten Köpfen eine besonders interessante Gruppe. Ein hochgewachsener Greis küßt ritterlich einer alten Dame die Hand. Albert Niemann — kürzlich auch heimgegangen — und Mathilde Mallinger, die im Februar dieses Jahres ihr siebzigstes Lebensjahr vollenden konnte. Und plötzlich übersetzt mein geistiges Auge beide Gestalten aus dem Raum v o r dem Orchester auf die Szene d a h i n t e r.
Lohengrin. 1877. Eine meiner ersten Vorstellungen in Berlin, mit den ersten Kräften besetzt. Frau Mallinger, Fräulein Brandt, Niemann, Betz, Bricke, Krolop. Am ersten Violinpult de Ahba! Berlin von heute, kannst du damit wetteifern? — Das war wenige Wochen, nachdem ich mein allererstes Stück in dem edlen Gropiusschen Vorhang („Arion auf dem Delphin”) geschmückten Opernhause erlebt hatte, diese Aufführung war beinahe noch interessanter, als Wagners Musikdrama, jedenfalls für mich als Kind verständlicher! Raimunds neu einstudierter „Verschwender”. Die ersten Kräfte der Königlichen Bühnen wirkten zusammen. Goritz — sein Sohn ist später ein tüchtiger Baritonist aeworden, der auch in Berlin oft gastiert hat — spielte die Titelrolle. Vo1lmer, unser teurer, jetzt in die Altersruhe geschiedener junger Vollmer, den Valentin. Mathilde Mallinger gab die Rosel und es war für den Kenner hochinteressant, die berühmte Elsa und Elisabeth, Iphigenie und Margarete in einer Soubrettenrolle zu sehen. Franz Betz sang an jenem Abend den Azur, ein getreuer Geist der Fee Cheristane, die durch Clara Meyer verkörpert wurde. Bernbal war ein würdevoller Präsident, Frau Frieb-Blumauer ein prächtiges altes Holzweib und Döhring ein köstlicher Chevalier Dumont. Noch höre ich ihn:
„Es schlafen unter diesem Stein
Chevalier Dumont hier ganz allein —”
Jetzt schlauuml;ft er, jetzt schlafen die meisten Darsteller jenes Abends wirklich! Ja, es war eine große Zeit im Theaterleben damals nach dem Kriege! Wird auch diese Spanne der Kämpfe neue herrliche Früchte zeitigen?
Die Operette hatte damals ihr festes Heim in der Schumannstraße an der Stätte des heutigen Deutschen Theaters. „Fledermaus”, „Fatinitza” (nach dem russisch-türkischen Kriege) und „Mamsell Angot” waren einige der Hauptstücke jener Tage. Das spätere Friedrich-Wilhelmstädtische Theater in der Chausseestraße hieß damals Woltersdorf-Theater und gab Lokalstücke, auch im Sommer Opern. Ich erinnere mich Glaesers „Des Adlers Horst”, eine heute verschollene Oper, dort gehört zu haben. Viele Bühnen jener Zeit, da Berlin wohl schon Großstadt, aber noch nicht Weltstadt war, wirst du, liebe Leserin, kaum dem Namen nach kennen. Da war im Norden das „Viktoria-Theater”, mit einer Doppelbühne und zwei Zuschauerräumen, es bildete die Stätte schöner Ausstattungsstücke, wie „Uarda” (nach Ebers Roman), „Capitän Grant”. Die Maschinerie und Beleuchtung leistete für jene Tage, da Berlin noch keine elektrische Beleuchtung und Gasglühlicht kannte, Wunderbares. Erdbeben, Schiffskatastrophen, Brände, Einstürze wurden dem überraschten Auge vorgeführt. Nicht weit davon entfernt lagen das „National-Theater” und das „Vorstädtische Theater”. Unfern des Belle-Alliance-Platzes stand das nach diesem benannte Theater und das Stadttheater, später auch das „Centraltheater”, das unter Schulz und später Ferenczy florierte. Das heutige Berliner Theater hieß „Walhalla” und war Spezialitätenbühne. In dem oben genannten Victoriatheater gastierte Anfang der achtziger Jahre einmal Angela Neumann mit Wagners „Ring”. Der Bayreuther Meister leitete selbst einige Vorstellungen, in denen eine Reicher-Kindermann, Materna, Vogl, Stehr mitwirkten und zu deren vornehmsten Zuschauern der Königshof mit Kaiser W i l h e l m an der Spitze gehörte.
Unser geliebter alter Herr — wie oft habe ich ihn noch gesehen! Einmal auch zu Fuß, Unter den Linden, auf dem Pariser Platz. Das war an dem Nachmittage (etwa 1877), als die Leiche des alten Feldmarschalls Wrangel von seinem Wohnhause am Pariser Platz (heute Eigentum des 1. Garde-Regiments und Garnison-Kasino) nach dem Stettiner Bahnhof überführt wurde. Etwa bis zum Eingang der Neuen Wilhelmstraße schritt die hohe Gestalt des greisen Fürsten hinter dem Sarge her, dann bestieg er seine offene Kalesche, die er immer benutzte, dunkelrot die Räder, o h n e Gummireifen, auf dem Bock neben dem Kutscher der Kammerjäger mit wehendem Haarbusch. Das war das bekannte Bild, dem man in verschiedenen Stadtteilen begegnen konnte. Links vom Kaiser, der stets den Helm trug, saß entweder Fürst Radziwill oder Graf Lehndorff. Kaiserin Augusta benützte stets einen dunkelroten, geschlossenen Landauer, auf dessen hinterem Trittbrett zwei Lakeien standen; eine ihrer beliebtesten Fahrten war die am Sonntag vormittag nach der Kapelle des nach ihr benannten Hospitals im Invalidenpark. Hier wohnten sie dem Gottesdienst, in einem Sessel der hintersten Reihe sitzend, bei, nicht ohne einen Gang durch die Krankensäle gemacht und selbst Kleinigkeiten, wie in einem Fall die Reinheit der Handtücher, bemerkt zu haben. Ihre Majestät verstand in Dingen ihres lieben Augustahospitals keinen Spaß und konnte, wo sie Mißstände bemerkte, sehr deutlich werden. An der Seite ihres Gemahls habe ich die Kaiserin nur in der Kirche gesehen, so an dem Tage, da die Dankeskirche auf dem Weddingplatz eingeweiht wurde. Der hochbetagte Generalsuperintendent Brückner wirkte damals noch mit und, irre ich mich nicht, auch Süchsel und Hanstein, letzterer der Pfarrer des Kgl. Invalidenhauses, ersterer ein bedeutender Kanzelredner. Infolge eines Versehens blieb bei diesem ersten Gottesdienst — das Vaterunser fort. Ein anderer Zufall hatte sich an derselben Stelle einige Jahre früher ereignet. Als bei der Grundsteinlegung der Dankeskirche ein hoher Geistlicher — ich glaube Büchsel — den Text aus einer schönen Bibel vorlesen wollte, begann es zu regnen, so daß ein Herr aus der Umgebung seinen Schirm aufspannte und über den Redner hielt. Der aber begann, selbst erstaunend, das Wort der Schrift: „Wer unter dem Schirm des Herrn sitzet — —” Relata refero! Aber es wurde mir von glaubwürdiger Seite, einem alten, dem Hofe nahestehenden General berichtet. Einer der gewaltigsten Redner jener Tage war Kögel, wirksam durch die wunderbare Sprache, die wie Abschnitte aus der Bibel klang, er war der geborene Oberhofprediger im Dom. Anders wirkte Frommel, der im weißen Haar eine seltene Frische und Lebhaftigkeit bewahrte, und dessen prachtvoller Humor stadtbekannt war. Glich Kögel einer ernsten Prophetengestalt, so Frommel einem gütigen Patriarchen des Alten Testaments. Von ihm liefen manche Scherzworte umher, auch dieses, für das ich mich freilich nicht verbürgen kann: Er habe einer Frau, die ihn bei ihrer v i e r t e n Eheschließung zum Hochzeitsmahl bat, dankend geantwortet, er sei leider behindert, aber d a s n ä c h s t e M a l werde er erscheinen.
Der alte Dom — von Friedrich II. gegründet — ich sah ihn mit seiner feierlichen Säulenhalle, als Kaiser Wilhelm I. in der Nacht vorn 12. zum 13. März 1888 dorthin überführt wurde. Denke dir, Leser, die „Linden” im Schneesturm, Mitternacht, das Läuten der Domglocken, die Leibkompagnien bes 1. Garde-Regiments in den hohen Mützen, ohne Musik, und dann von Fackeln umgeben der schlicht-schwarz bedeckte Sarg. Und an beiden Straßenseiten Berlin in Tränen! — — — Ich sah den alten Dom, als eines Tages seine Rundtürme dem Dynamit des Pionierkommandos erlagen, das sie niederlegen sollte. Das Bild des alten Domes, der in seiner Schlichtheit so echt prenßisch war, ist mir auch nicht von Münstern und Kathedralen, die ich später sah, verdrängt worden, auch nicht von Brüssel, Laon, Royon und St. Quentin im Laufe dieses Feldzuges. Er paßte gut hinein zwischen das Schloß und unser altes Museum. — —
Altes Museum — neues Museum — auch eine Erinnerung. Ich war eben 17 Jahre alt, in der Zeit der Flegeljahre zweiter Auflage und spazierte mit einer Angebeteten aus der hohen Töchterschule am Schiffbauerdamm. Natürlich ganz ehrbar, am hellen Mittag. Elise und ich waren einig, daß nichts hübscher sei als die Tanzstunde, und nichts reizender als Apfelkuchen mit Schlagsahne bei Kranzler, die ganze Kunst aber, mit der wir in der Schule gequält wurden, einschließlich Laokoon und Lessings Abhandlung, sei „Quatsch”! Wir hatten etwas laut gesprochen, ein alter Herr faßte mich plötzlich scharf ins Auge, ergriff mich bei der Klappe der Jacke und deutete mit dem Spazierstock hinüber nach dem Giebel des neuen Museums. Und was stand (und steht noch) in Goldschrift dort verzeichnet: „Artem non obit, nise ignarus” — „Nur Dummköpfe können die Künste hassen.” — Ich habe später im Kolleg bei Curtius und in den Vatikanischen Stanzen reuig Buße getan. —
Und nun treten wieder nette, alte liebe Gestalten an den (vom Batterietischler verfertigten) Schreibtisch des grauen Hauptmanns vom Feldartillerie-Regiment „König Ramses”. Ernst Curtius, blau&uauml;ugig, noch als Siebziger so feurig, daß, als er sich mit heftigen Fußtritt in die Stellung eines Athleten stellte (er erklärte einen Tempelgiebel), die Bildertafel neben ihm zusammenbrach. Treitschke, hochaufgerichtet auf dem Katheder: Die Carthager waren das hochmütigste und eingebildetste Volk der Weltgeschichte — ausgenommen die Engländer! — Jubelndes, donnerndes Echo im Auditorium maximum. Er kannte seine lieben Briten schon vor mehr als 30 Jahren! Auch Gneist naht, der von dem Abend erzählt, da Bismarck ihm die beinahe fertige deutsche Reichsverfassung im Entwurf vorlas, auch Dubois-Reymond mit seiner hohen Tenorstimme: „Ignoramus — ignorabimus.&rdquo: Und nun ein zierliches Männchen im Frack mit Violine. Herr Freising, der Universitätstanzlehrer. Er und Herr Medon, der Tanzlehrer des Kadettenkorps in der Neuen Friedrichsstraße waren die Meister jener Tage in Terpsichores Reich, zu denen die Kinder der oberen Zehntausend pilgerten. Dort lernte man den ersten Walzer und die erste Liebe kennen. In der Loge neben dem Tanzsaal saßen die Eltern lächelten über die Jugendlust und dachten wohl zurück, wie ich heute zurückdenke. „Vor mehr als dreißig Jahren — — —!” „Also die Tyrolienne, meine Herrschaften — dritte Position!” Herr Freising klopft. — N e i n ! Es klopft an meine Tür. H e r e i n .”
Eine polnische Bauernfrau steht vor mir, sie radebrecht die deutsche Sprache: — „Herr Ortskommandant — Granate bei mir im Haus — Blindgänger — nicht hineinwagen, nicht schlafen können — schrecklich — in Mauer stecken!” Nun ja, das ist begreiflich, so ein Ding ist kein Knallbonbon von Herrn Freisings Kotillon. Ich rufe durch Fernsprecher den Feuerwerker der Division an, er verspricht, den unheimlichen Gast zu beseitigen. Die Bauernfrau küßt mir die Hand, obschon ich es ihr wehre. Es ist hier so Sitte! — Und so hat die faule russische Granate (es wird wohl amerikanischer Schund sein!) nicht nur die alte Steinmauer, sondern auch den Faden meiner Erinnerungen zerrissen, und darum sage ich:: „Lebe wohl, lieber Leser, holde Leserin, bleibe mir gewogen und grüße tausendmal die Heimat und mein teures Berlin!”
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